LESEPROBE ZU
M.E.L. »hoch und runter – Mein Junge aus Costa Rica
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Tingeln durch die Südsee
Kann man sich ein ungeschickteres Datum als den Heiligabend für eine Reise aussuchen? Zumindest wenn man alleine ist? Wahrscheinlich nicht. Nachdem ich mir ein Flugticket gekauft hatte, das ein Jahre galt und auf die von mir gewählte Route Papeete-Fiji-Neuseeland-Australien-Philippinen-Pakistan-Frankfurt ausgelegt war, flog ich am 24.12.1978 nach Papeete auf Tahiti. Und heulte erst mal in die Hotelkissen. Weit und breit kein Tannenbaum, kein Schnee, keine Glöckchen, keine Menschen in dicken Daunenjacken, die gestresst die letzten Einkäufe erledigen. Nicht, dass ich das vermisst hätte, aber so hockte ich allein auf einer Insel und wusste nichts mit mir anzufangen. Natürlich schaute ich mir die Umgebung an, konnte mich aber nicht von dem Gefühl befreien, dass dort jeder jemanden hat, oder wusste wo er hingehört, nur ich nicht. Ich konnte dieses blöde Französisch nicht, kannte niemanden und hatte nichts zu tun. Es war ja nicht so, dass ich das nicht vorher gewusst hätte, aber das Wirkliche daran schockierte mich. Auf Moorea, einer kleinen Nachbarinsel, mietete ich mir ein kleines Häuschen. Der Traum von Idylle auf einer Insel im Pazifik – man sieht den Schriftsteller förmlich vor sich, wie er mit leerem Blick durch das Fenster aufs Meer blickt und Eingebungen folgt, die er aufs Blatt bringt. Ich bin keine Schriftstellerin, das Haus hatte keine Moskitonetze und meine nächtliche Begegnung mit den hiesigen Mosquitos und Sandfliegen verwandelte mich in eine albtraumhafte Version von Schweinchen Dick. Es war ein dermaßen brutaler Überfall, bei dem ich mich nicht wehren konnte. Diese Viecher fressen einen bei lebendigem Leib. Ich mutierte und wuchs zur doppelten Leibesgröße.
An einem Kiosk lernte ich ein amerikanisches Pärchen kennen, das nicht abgeschreckt war von meinem Anblick und mich spontan einlud auf ihrem Boot zu übernachten, auf dem eine Koje frei war. Ich nahm an, packte umgehend mein Hab und Gut, Hauptsache raus aus der blutsaugenden Hölle. Aus einer Nacht wurden zwei Wochen. Ein Himmelreich für sandfliegenfreie Träume. Die kleinen, fiesen Beißer hatte ich nicht mehr zu befürchten, wurde aber sehender und hörender Zeuge von entsetzlichen Streitgesprächen. Wie unangenehm es ist, wenn Menschen einen nötigen, ja nahezu missbrauchen, jemanden an ihrer Lust an der gegenseitigen Zerfleischung teilhaben zu lassen. Der Zufall trieb mich geradezu in ihre Hände und sie schlugen begierig zu. Als ich ihnen zu langweilig wurde, wechselten sie die Taktik. Ich wurde zum Stein des Anstoßes, bis der Vorwurf fiel, warum er mich Schlampe mit aufs Schiff genommen habe. Da packte ich meine Siebensachen und ging. Heute kann ich kaum glauben, dass das mein erstes Erlebnis auf einem Schiff war und ich trotzdem dem Ruf aufs Wasser gefolgt bin.
Ich fand ein Zimmer in einem Bedienstetenappartement vom Hotel Aimeo in der Opunohu Bay, in dem ich als Rezeptionistin arbeiten konnte. Meine Chefin war Anne H., eine Deutsche, die mit ihrem Mann Helmut und dem gemeinsamen Segelschiff nach langen Reisemonaten völlig abgebrannt dort gelandet waren. Ob sie völlig abgebrannt waren, wusste ich nicht, aber sie erzählten, nachdem sie lange unterwegs waren, mussten sie arbeiten, um wieder den Klingelbeutel zu füllen und dann weiterziehen zu können. Letztendlich waren sie schon sechs Jahre auf der Insel. Was ich damals noch nicht wusste: Dass mir diese Art des Segler-Lebens mit dem Wechsel der Gezeiten von finanzieller Flut und Ebbe, dem Reisen auf dem Meer und dem Arbeiten an Land bald sehr vertraut sein würde. Die Arbeit im Hotel machte Spaß. Alle zwei Wochen kamen Charterflüge aus Kanada mit frischen Touristen. Frisch für uns, auch wenn sie sich zu Beginn des Urlaubs nicht frisch fühlten. Es wurde nie langweilig. Ständig neue Menschen, ab und zu nette und unterhaltsame Kontakte, die meist oberflächlich waren, frei und unverbindlich blieben. In der Regel meckerten die Leute nicht, sondern waren glücklich. Es war befriedigend, die Veränderung zu sehen, die den Gästen nach einem gelungenen Urlaub aus den Augen strahlte. Ich begleitete das Freizeitangebot, bei dem wir zweimal in der Woche auf eine kleine unbewohnte Insel mit dem Outrigger Kanu hinfuhren und am Strand ein Feuer und Essen mit einheimischen Polynesiern veranstalteten. Meine erste Erfahrung mit dem Segeln, die mir Freude bereitete, war unser Sunset Sailing, bei dem wir mit den Gästen in den Abendstunden drei Stunden aufs Meer hinaus segelten, um den Sonnenuntergang zu genießen. Die Skipperin auf dem Schiff hinterließ einen nachhaltigen Eindruck auf mich, weil sie viel Segelerfahrung hatte und alles rund um das Segeln wusste.
Direkt vor dem Hotel in der Opunohu Bay ankerten viele Segelyachten. Unter anderem die Joshua von Bernard Moitessier. In meinen Augen ein sympathischer, drahtiger 54-jähriger Mann, der wenn immer er auf sein Schiff ging, zuerst an der Rezeption Halt machte, um ein paar Worte mit mir zu wechseln. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wer Bernard Moitessier war. Ich hielt ihn für ein bisschen verrückt, weil er immer zu seiner Joshua rüber schwamm und nie wie Andere das Beiboot dafür hernahm. Später erst erfuhr ich, dass Bernard ein intellektueller französischer Segler, Philosoph und Buchautor war. Er lebte seit Jahren auf Moorea, hatte eine polynesische Frau und einen Sohn und verschiedene Bücher geschrieben, unter anderem das Buch „Der verschenkte Sieg“. In diesem Buch beschrieb er die Teilnahme an einer Regatta rund um die Welt, die er als Sieger beendet hätte, wenn er nicht kurz vor dem Ziel seinem Gedankenblitz gefolgt wäre, sich zu fragen, was er da eigentlich mache. Als er keine schlüssige Antwort darauf fand, drehte er kurzerhand ab.
Ein weiterer kleiner Stein des Anstoßes, der ins Rollen geriet, war in der Begegnung mit Burghard, Helga und Luggi. Kurz nachdem ich im Hotel Aimeo zu arbeiten anfing, ging ein deutscher Katamaran vor Anker. Die drei kamen öfters in die Hotelbar oder auch an die Rezeption, um Geld zu wechseln oder zu telefonieren. So erfuhr ich, dass ihr Schiff Shangri La hieß und mit vier Kajüten ausgestattet war. Die Shangri La gehörte Burghard und Helga, Luggi reiste mit. Burghard war Berufskapitän und Schullehrer, Helga der Spross einer Seefahrerfamilie, bereits ihr Vater war ein erfahrener Kapitän auf großen Frachtern gewesen, auf denen sie manches Mal mitfahren durfte. Burkhard, gelenkig und sehnig, mit einem dichten Vollbart, wie es sich für einen Seemann gehört, vermittelte seine Erfahrung unterhaltsam und wunderbar witzig. Helga, seine patente Partnerin, schlank, braungebrannt mit langen dunklen Haaren, empfand ich oft als Nervensäge, wenn sie im Hamburger Stakkato dauerplapperte. Luggi hingegen war Bayer und äußerst mundfaul. Sie segelten und lebten auf dem Schiff und nahmen regelmäßig Freunde aus der Heimat auf, die bei ihnen auf dem Boot ihren Urlaub verbrachten. Eines Tages war der Zeitpunkt gekommen, als ich dieses Leben näher kennenlernen wollte. Die drei planten weiterzuziehen. Da sie mir sympathisch waren, fragte ich, ob ich anheuern dürfe. Das ist üblich in den Kreisen, denn in der Regel sind Segler froh, neben der Unterhaltung bei den Routinearbeiten des Alltags unterstützt zu werden. Ich war seglerisch jungfräulich, aber für Hilfsjobs wie Kochen, Aufräumen gut zu gebrauchen. Burghard sagte mir zu, ich kündigte, packte meine Sachen und zog aufs Schiff. Das erste Ziel der geplanten Route war die Insel Huahine, anschließend sollte es nach Bora Bora gehen, von dort nach Suwarrow, einem Atoll im nördlichen Teil der Cookinseln, weiter über Samoa nach Tonga und schließlich zu den Fiji Inseln. Wir fuhren abends um 20 Uhr los, um am nächsten Abend noch im Hellen auf Huahine anzukommen. Ich verbrachte meine erste Nacht auf dem Meer selig schlafend in meiner Koje. Oh, hätte diese Nacht nicht ewig währen können? Sobald ich am Morgen auf meinen Beinen stand, reagierte mein Gehirn verwirrt. Die restlichen verbleibenden zwölf Stunden bis Huahine war mir speiübel. Es beschämte mich zutiefst, auch wenn Burghard mich verständnisvoll tröstete. In den Augen von Helga lief mit spöttischer Verachtung in Endlosschleife der Banner »Was für eine blutige Anfängerin«! Das konnte aber durchaus mein eigener Text gewesen sein. Jedenfalls dauerte dieser unwürdige Zustand länger als die üblichen drei Tage bis mein Gehirn die Lernkurve eines schaukelnden Unterbodens angenommen hatte. Allerdings reagierte es immer wieder beleidigt, wenn es nach längeren Landgängen zurück aufs Wasser ging. Ingwertee lindert, wie ich in späteren Jahren feststellte.
In Huahine nahmen wir einen Hahn und vier Hühner an Bord, die wir von einem Bauer aus der Bucht erworben hatten. Auf der Insel Suwarrow lebte, bis zu seinem Tod 1977, der Aussteiger Tom Neales, der dort Hühner hielt. Über sein Dasein als Eremit schrieb er ein Buch „An island to oneself“. Darin erzählt er die Anekdote, wie eines Tages ein Schiff an der Insel landete und ihn vor dem Hungertod rettete. Er hatte sich einen schweren Bandscheibenvorfall zugezogen, eine körperliche Fessel, die ihn so unbeweglich machte, dass er sich nicht mehr versorgen konnte. Also so ganz ohne ist dann auch nichts. Also so ohne menschliche Form des Miteinanders. Allein auf einer Insel, weil man dem Rest der Menschheit sein Dasein nicht zumuten möchte oder auch umgekehrt. Und dann ist es doch zutiefst menschlich und auch magisch, dass ein Schiff zufällig vorbeikam. Ich denke Tom Neales hatte akzeptiert, dass er sterben könnte; womit er gerechnet oder worauf er gehofft hatte, ist wieder etwas Anderes. Ich für meinen Teil finde das alles etwas überspannt, aber jeder wie er es mag. Diese Freiheit zu haben ist essentieller als darüber nachzudenken, ob es sinnvoll ist, als Eremit auf einer Insel zu leben oder nicht. Nachdem Neales dann wirklich gestorben war, lebte sein Federvieh fröhlich gackernd und scharrend vor sich hin, bis es von Seglern, die vorbeikamen, nach und nach geschlachtet wurde. Diese Geschichte erfuhr Burghard von Bernard Moitessier, der es schade fand, dass es auf dem Eiland keine Hühner mehr gab. Seiner Ansicht nach wurde die Vegetation durch die Hühner, die überall hinschissen, natürlich gedüngt und damit reichhaltiger. Burghard verstand seinen Hühner-Insel-Gedanken als stillen Auftrag, dem er nachkommen wollte, und schon hielten wir einen gackernden Hühnerhaufen an Bord. Kaum hatte ich mich also an das Schaukeln des Schiffes gewöhnt und konnte in Zwiesprache mit meinem Gehirn das Segeln sogar genießen, zog der Gestank bei uns ein. Hinzu kam, dass der Wind von achtern blies und den beißenden Geruch von Hühnerscheiße über das ganze Schiff wehte. Man konnte ihm nicht ausweichen. Man konnte nicht mal schnell ins Auto steigen und eine Auszeit in einem Meer von Lavendel nehmen. Dass Luggi zwischendurch kurzerhand ein Huhn schlachtete, schaffte keine Linderung.
Als Bora Bora in Sicht kam, machten wir für knapp zwei Wochen einen Zwischenstopp, so dass ich den Hühnerausdünstungen stundenweise entkam. Der Inselbesuch war lustig und unterhaltsam, denn eine Film-Crew unter Dino de Laurentis drehte gerade einen Film und suchte Statisten. Immerhin zahlten sie fünfzig Dollar pro Drehtag. Der Low-Budget-Film mit dem bezeichnenden Titel Shark-Boy of Bora Bora war eine Liebesgeschichte zwischen einem Mädchen und einem Jungen, der in der Unterwasserwelt zu Hause war und von der seinem Großvater einen Hai in Obhut bekam. Für eine Szene mussten wir drei Abende von zehn Uhr abends bis vier Uhr morgens an einer Bar rumstehen, für eine andere Szene wurden wir an den Flughafen gekarrt und begrüßten eine Amerikanerin, die zum ersten Mal auf die Insel kam. Sie stieg aus dem Flugzeug und rief wild gestikulierend und völlig überdreht »I love it! I love it! I love it!«. Ich musste entsetzlich an mich halten, um nicht lauthals herauszulachen. Möglicherweise hat der Regisseur diesen Teil der amerikanischen Übertreibungskultur verspottet, aber ich befürchte, er meinte es bitterernst. Eine Freundin schenkte mir später den Film als VHS. Als ich das Werk anschaute, konnte ich mich nicht so recht auf die Handlung konzentrieren, weil ich die ganze Zeit erwartete, dass ich mir im nächsten Kameraschwenk ins Auge sprang. Das tat ich nicht, wahrscheinlich fiel mein schauspielerisches Talent der Cutter-Schere zum Opfer.
Weil in dem Film viel getaucht wurde, fällt mir ein, dass ich noch etwas zu meinen Unterwasserambitionen berichten möchte. Als ich zum ersten Mal vom Schiff ins Meer sprang, schnallte ich mir von Burghard eine Taucherbrille um den Kopf und Flossen an die Füße. Ich glitt durch die Frische, spürte die Wasserbewegungen auf der Haut, ließ mich von der Hand der Schöpfung tragen und streckte meine Hände nach seinen Geschöpfen aus, die unbedarft diese Welt bevölkerten. Berauscht von dieser Freiheit trug ich von da an nie mehr einen Neoprenanzug, eine Gasflasche geschweige denn einen Bleigürtel. Nach zwei Wochen ging es weiter Richtung Suwarrow. Dort wurden wir bereits von zwei anderen Yachten sehnsüchtig erwartet – Claude Carson, ein ehemaliger Vietnam Veteran von der SY Entropy, und Patrick von SY Lemon Butt. Es hatte sich herumgesprochen, dass wir Hühner für Suwarrow an Bord hatten. Eine weitere französische Yacht gesellte sich noch ein oder zwei Tage später dazu und für zwei Wochen lebten wir das Leben des Tom Neales. Helga und ich backten Brote und Kuchen in seinem Backhäuschen oder wir alle gingen viel schnorcheln. Luggi der Koch bestellte bei Burghard jeden Tag einen Fisch fürs Abendessen an Tom Neales Picknick-Platz am Strand unter Kokospalmen. Wenn es nichts zu arbeiten gab, ging ich immer schnorcheln, um Kauri Muscheln zu suchen. Wir hatten die blöde Idee, dass wir diese sammeln und mitnehmen müssen. Ein unnötiger Tod dieser schönen Muscheln. Immer wieder schwammen kleine Riffhaie um mich herum. Riffhaie und Barracudas sind in der Regel nicht gefährlich und eher scheu, allerdings gibt es bei ihnen auch so etwas wie ein territoriales Verhalten, wenn sie provoziert werden oder sich bedroht fühlen. Wenn sie mir zu dicht kamen und zu aufdringlich wurden, haute ich ihnen mit dem Pfeil einer Harpune auf ihre Nase. Wohl fühlte ich mich dabei nicht, weil man nie weiß, wie ein wildes Tier reagiert, ich hatte aber auch keine Angst. Schade, dass es nach vierzehn Tagen schon weiterging, wir mussten Richtung Samoa aufbrechen. Zuerst Pago Pago American Samoa, welches ich nur noch sehr vage in Erinnerung habe, danach nach Apia, der Hauptstadt von Western Samoa. Hier traf Burkhard einen alten Freund aus Lübeck, der für die GTZ ein Marine-Training-Center aufbaute, um so viele junge Männer wie möglich für die noch im Aufbau befindliche Handelsflotte auszubilden.
Nach Westsamoa wollten wir als nächstes Streckenziel nach Tonga, mussten aber irgendwann nach Fiji abdrehen, weil ein heftiger Sturm aufkam, der Wind sich auf Süd drehte und für uns dadurch für Tonga aus der völlig falschen Richtung wehte. Der Wind kletterte auf acht Beaufort, so dass wir für einige Stunden sogar beidrehen mussten. Durch so etwas muss man auf einem Schiff durch, fluchend zwar, aber es ist trotzdem schön und faszinierend, mit den Kräften der Natur zu arbeiten. Acht Tage dauerte der Törn, drei Tage lang hatten wir mit dem Sturm zu kämpfen, bis wir dann auf dem unbewohnten Atoll Reid Reef in der Lau-Gruppe der Fiji-Inseln angekommen waren. Nach acht Tagen hing uns das Dosenfutter zum Hals raus und wir entwickelten eine unbändige Lust auf frischen Fisch. Gegen jeden menschlichen Verstand fischten wir in der Lagune ein paar Fische. Wir wussten, dass Fische in einer Lagune an einer Stelle des Riffs für den menschlichen Verzehr geeignet sind, während in direkter Nachbarschaft in derselben Lagune die Fische stark mit Ciguatoxinen belastet waren. Ursache sind marine Einzeller, Geißeltierchen wie Gambierdiscus toxicus, die auf Algen und Seetang von Korallenriffen leben. Eigentlich sollte man immer einen lokalen Fischer fragen, ob die Fische essbar sind, aber Reid Reef war unbewohnt. Die Hoffnung, genau die vier unbelasteten Fische zu fangen, war größer. Und endete in einer komatösen Vergiftung, der Ciguatera Fischvergiftung. Das Schlechtwerden trat gleich nach dem Essen ein. Keiner wagte jedoch, etwas zu sagen, da man die anderen nicht beunruhigen wollte. Hätte nur einer von uns etwas gesagt. Noch in der Nacht musste ich mich entweder an der Reling übergeben und zur Toilette schleichen, die leider im anderen Rumpf war. Nach kürzester Zeit war ich völlig dehydriert und ausgelaugt. Wir hingen halb tot auf dem Schiff. Ich hatte in den folgenden Tagen mit starken Atembeschwerden und dem unangenehmen Gefühl, meine eigenen Beine laufen ohne mich weg, zu kämpfen. Wir konnten keine Hilfe holen, weil wir zu weit entfernt von menschlicher Zivilisation waren und keiner in der körperlichen Verfassung war zu segeln. Von uns vieren war einzig Luggi in einer einigermaßen normalen Verfassung und konnte uns manchmal einen Tee kochen. Nach zwei Tagen fürchterlichem Leiden hing ich an seinem Hals und weinte bitterlich. »Luggi, mir ist so schlecht, mir geht’s so dreckig, ich möchte sterben«, um ein paar Minuten später wieder an seinem Hals zu hängen und zu jammern, »Luggi ich möchte nicht so weit weg von zu Hause allein auf der Insel sterben«. Eine Woche vegetierten wir vor uns hin, überlebten aber diese Dummheit.
Zwei Wochen später sind wir in Suva, der Hauptstadt des Fiji-Archipels angekommen. Bald musste ich mich, wie vereinbart, von Burghard, Helga und Luggi verabschieden. Zunächst jedoch trafen wir uns jeden Abend mit anderen Yachteignern im Royal Suva Yacht Club zum Klönen und Billardspielen. Ich nahm an, dass es über diese Abende ein leiser Abschied für immer war, doch die Seglerwelt ermöglicht einem die Weite des Ozeans und ist dabei recht überschaubar. Zufällig unterhielt ich mich auf einer Veranstaltung im Royal Suva Yacht Club mit einem Mitarbeiter der Hanns-Seidl-Stiftung. Er arbeitete an einem Projekt bezüglich Entwicklungshilfe in ländlichen Gegenden zur Fischereientwicklung. Er bot mir an, für ihn die Projektbeschreibung vom Englischen ins Deutsche zu übersetzen. Ein sehr interessanter Job, der mit etwas Einblick in die Entwicklungshilfe gab und mir einen guten Verdienst bescherte. Gleichzeitig hat mir sein Freund Werner, der für den Deutschen Entwicklungsdienst Handwerker ausbildete, angeboten, dass ich während dieser Zeit bei ihm übernachten könne. Werner hatte drei junge Frauen bei sich wohnen, die ihm abwechselnd das Haus reinigten und ihn abends, wenn er nach Hause kam, mit einer Rundum-Verpflegung das Leben angenehmer machten. Mit einer dieser Frauen (ihren Namen weiß ich leider nicht mehr) hatte ich mich angefreundet. Nachdem das Projekt beendet war, lud sie mich ein mit ihr zusammen ihre Familie in einem kleinen Dorf im Norden von der Insel für eine Woche zu besuchen. Zu dem Dorf führte keine Straße hin. Wir mussten zuerst mit dem Bus in die Nähe des Dorfes fahren, von dort wurden wir von einem befreundeten Fischer mit einem kleinen Fischerboot abgeholt. Im Dorf war ich junge europäische Frau eine kleine Sensation, wahrscheinlich war ich die erste weiße Frau, die sie zu sehen bekommen hatten. Es gab weder Elektrizität geschweige denn Fernsehen oder Radio. Es gab eine Dusche mitten im Dorf, und wenn immer ich zum Duschen ging, stand fast das ganze Dorf drumherum zum Zuschauen. Der Chief des Dorfes (vergleichbar mit unserem Bürgermeister) lud mich zu sich ein, Kava – ein Getränk, das aus dem Wurzelstock des Rauschpfeffers hergestellt wird –, mit Ihm zu trinken. Eigentlich war es sonst nur Männern vorbehalten, Kava zu trinken. Es war eine große Ehre für mich und das erste Mal, dass ich diese einfache Lebensweise hautnah miterleben konnte – es hat mich sehr beeindruckt. Sowohl auf Französisch Polynesien als auch auf Samoa war die Entwicklung deutlich weiter vorangeschritten, und dass es in der Entwicklung in Fiji großen Handlungsbedarf gab, hatte ich ja schon durch meine Arbeit bei der Hanns-Seidl-Stiftung oder in Gesprächen mit Werner mitbekommen. Eine Woche hatte ich nur Zeit zu bleiben, da ich bereits einen Flug von Fiji zu den Neuen Hebriden gebucht hatte. Ich hätte es auch noch länger dort ausgehalten. Da kein Fischer in der Nähe war, nahm mich die Mutter der Bekannten kurzerhand auf ihr Pferd und ritt mit mir bis zu nächsten Busstation, was einen halben Tag in Anspruch nahm. Mein Hintern war so wund, ich konnte am Ende des Tages fast nicht mehr laufen geschweige denn sitzen, aber ich musste noch bis nach Nadi mit dem Bus fahren.
Von Nadi flog ich nach Port Vila auf die Neuen Hebriden, einer Inselgruppe von 83 Inseln (Heute heißt dieser Staat übrigens Vanuatu, wo angeblich die glücklichsten Menschen der Welt leben. Die Neuen Hebriden sind nicht zu verwechseln mit den Hebriden an der Nordwestküste Schottlands). Dort mietete ich mir ein Hotelzimmer und traf bei einem Spaziergang im Hafen Claude Carson von der SY Entropy wieder, den ich ja auf Suwarrow kennen gelernt hatte. Claude war ein Einzelgänger und Einhandsegler. Sein Schiff hatte die Größe eines Wohnwagens und war entsprechend ausgestattet. Für das Bett wurde der Tisch versenkt, was sich Claude in der Regel sparte und im Vorschiff schlief. Er kam gebürtig aus Ohio, war Vietnam Veteran und hatte Dinge erlebt, die man nur erahnen konnte, über die er nie sprach. Sein schlanker Rücken war von einer großen Narbe übersät. Von der Regierung hatte er, nachdem er aus Vietnam zurückgekommen war, Geld bekommen, mit dem er sich das Schiff kaufte. Seit vier Jahren segelte er allein und wollte nicht viel von den Menschen wissen. Frauen hielten es nicht lange bei ihm aus, weil keine von ihnen ein solches Leben auf Dauer ertrug. Ich spürte seine verletzte Seele, wie gern hätte ich mit jeder Berührung seine Erinnerung weggeküsst. Aber was waren meine Küsse für das Erleben der menschlichen Finsternis. Ich brachte kein Licht in diese Welt, die hermetisch in seinem Inneren verschlossen war. Wir unterhielten uns über Musik, die Südsee, und konnten miteinander den Moment schweigsam verbringen. Eine stille sanfte Übereinkunft, so dass der Abschied nicht rührselig oder traurig war und jeder wieder seiner Wege ging.
Von den Neuen Hebriden flog ich nach Neukaledonien. Vier Tage hatte ich für den Besuch der Hauptstadt Nouméa und der Insel eingeplant. Die Inseln gehören zu Frankreich und Nouméa präsentierte sich nicht wie eine pittoreske Touristenstadt am Meer, sondern mit modernen Bauten, die neben dem Stadtzentrum über die Inselausläufer verteilt waren. Kaufen konnte ich mir nichts, da ich jeden Groschen und jedes Gramm Gepäck sparen musste. Am letzten Tag setzte ich mich morgens in einen Bus und fuhr vom Süden in den Norden, genoss die vorbeifliegende Landschaft, bis der Busfahrer mir sagte, dass kein Bus mehr zurückging. Das kam mir gelinde gesagt sehr ungelegen, da mein Weiterflug am nächsten Tag gebucht war. Also trampte ich in Kleinstrecken auf verschiedenen Mopeds zurück. Eine bessere Gelegenheit, um mit Einheimischen ins Gespräch zu kommen, gibt es nicht. Alle Fahrer waren Männer und als blonde, zierliche, allein reisende Frau liegt der Gedanke nahe, dass dies in einem sehr eigennützigen Zusammenhang steht. Und wenn auch. Mein Anliegen war auch eigennützig, denn ich wollte schließlich schnell und günstig mitgenommen werden. Ich fühlte mich immer sicher und kraftvoll in meiner Haltung. Damit ging ich in Kontakt und machte nie eine schlechte Erfahrung, die über Unfreundlichkeit oder eine Absage hinausging. Dort auf den Straßen Neukaledoniens flog ich klammernd wie ein Äffchen an den Rücken eines Melanesiers knatternd an Lagunen mit schneeweißen Sandstränden, lang gezogenen Bergketten und gründurchwirkten Landschaften vorbei. Am Ende musste ich nie bezahlen, weil das als unhöflich empfunden wurde. Ich bekam meinen Flug am nächsten Tag nach Neuseeland.
In Auckland, im Norden, war meine erste Anlaufstelle eine Jugendherberge. Das Schöne am Reisen in Jugendherbergen ist das stetige Wiedertreffen anderer Reisender. So traf ich fast jeden Abend einen Australier, der mit seinem Rad eine Rundreise um Neuseeland machte, ebenso wie ich, nur dass ich bequem mit dem Bus fuhr. Wenn Italien die Form eines Stiefels nachgesagt wird, so ist Neuseeland eine umgedrehte Stiefelette mit einem extra Schaft, so dass wir von Auckland am Spann bis zur Stiefelöffnung nach Wellington fuhren, dort übersetzten in den Schaft, an der Westküste – also dem Schienbein – nach Stewart Island an die Einstiegsöffnung reisten, um dann an der Ostküste wieder hoch an den inneren Sporn bis nach Christ Church zu kommen, wo wir uns trennten und jeder seiner Wege ging. Neuseeland ist einen Besuch wert. Seine Landschaften mit seinen Gletschern und Nationalparks, die mich heute rückblickend an die Fjorde von Norwegen erinnern, empfand ich als ein wunderschönes Gegenprogramm zur Südsee. Einmal stieg ich vom Bus zu einem Mann mit Querschnittslähmung der Mitfahrer suchte ins Auto um, was sehr unterhaltsam war. Er behauptete nicht taub zu sein, was ich nicht glauben konnte, denn er hörte in einer solchen Lautstärke Musik, dass meine Ohren in ein Tonkoma fielen. Aber er war supergut gelaunt, was ansteckend war, und ich fand es sehr berührend zu sehen, dass jeder seine Ideen hat und braucht, sich das Leben unterhaltsam zu machen. Ein anderes Mal fuhr ich mit dem Zug und lernte eine Neuseeländerin kennen, die mich in Wellington für drei Tage zu sich und ihren Eltern einlud, die ebenfalls weltoffen und unkompliziert waren. Mein Weiterflug wäre nach Australien gegangen, doch ich stornierte kurzfristig und buchte auf die Neuen Hebriden um. Ich wollte Claude nochmal treffen. Er wusste nichts davon, Mobiltelefon gab es noch nicht, und wir trennten uns mit dem Wissen, dass jeder seinem Leben folgte. Wenn er nicht da gewesen wäre, wäre es Pech gewesen, doch zu meiner Erleichterung war er da und sehr überrascht, als er mich wieder am Ufer stehen sah. Doch er freute sich, was mein Herz zu ihm aufs Schiff springen ließ. Ich segelte mit ihm bis kurz vor meiner Abreise an Weihnachten. Ein Tag vor Heiligabend flog ich dann nach Hause in kaltes, unwirtliches Wetter.
Der Ruf über das atlantische Meer
Ich hatte mich in den jungen Vagabunden verliebt. Seine unbekümmerte Lebensart mit den Träumen nach Freiheit betörten mich. Horst drückte sich über seinen Körper aus. Wenn er über das Schiff sprang, es in den Wind legte und meinte, alles seinem Willen unterwerfen zu können, zeigte er eine mitreißende Vitalität und Kraft. Er war so überzeugt von dem was er tat, selbstverständlich wie der Wind, der durch Gräser und Bäume streift und das Blätterwerk fortträgt. So nahm er mich mit, die sich bereitwillig von dem Ast der Heimat löste und von den Lüften des Lebens treiben ließ. (Dass das Temperament eines Windes, der sich zum Sturm drehen kann, ein einzelnes Blatt bisweilen verweht und es unter aufgewirbeltem Staub zurücklässt, ahnte ich, ignorierte das leise Flüstern jedoch konstant.) Wir vereinbarten, gemeinsam über den Atlantik zu segeln. Wenn ich von »Schiff« spreche, liegt es daran, dass ich über die gesamte Strecke meiner Erzählung bei einem einheitlichen Begriff aus dem Vokabular der Segler bleiben möchte. Mit Schiff assoziiert man etwas Großes und Erhabenes. Das muss ich zwingend für die Cachalot korrigieren. Ich will ihr nicht zu nahetreten, denn sie hat uns über den Atlantik getragen und jahrelang begleitet, doch nach heutigen Maßstäben war sie nicht mehr als ein Wohnklo mit Küche. Dasselbige war in der Kajüte, und wollte man seine Notdurft verrichten, musste man es anmelden, damit die anderen sich diskret an Deck zurückziehen konnten, oder in Kauf nehmen, dass man nicht allein dabei war. Zudem verfügte unsere kleine Nussschale über keinerlei moderne Ausstattung. Wie gesagt gab es damals kein GPS. Funk hatten wir auch nicht und das Echolot war defekt. Meine Eltern mussten mich mit 27 Jahren ziehen lassen. Ich weiß nicht, ob sie sich jemals darüber bewusst waren, was ihre Tochter dazu bewegte bzw. auf was sie sich einließ.
Wir wollten für die Atlantiküberquerung einen weiteren Mitsegler, den Horst wieder über eine Anzeige suchte. Heiko P. war der Auserwählte. Die Entscheidung fiel ohne mich, weil ich zu diesem Zeitpunkt noch in Stuttgart arbeitete, doch als ich Heiko auf den Kanaren kennenlernte, war er mir auf Anhieb sympathisch. Er kam aus dem Norden und besaß eine ruhige überlegte Art, die sein Beruf als Augenarzt auch notwendig machte. Er war in unserem Alter, sah einnehmend gut aus und war offen für neue Erfahrungen, denn er wollte sich später ein eigenes Schiff kaufen. Zudem war er rücksichtsvoll, denn während Horst und ich verliebt auf dem Vordeck turtelten, fraß er sich durch die gesamte technische Schiffsbibliothek. Das Einzige, was ihn wirklich mürrisch werden ließ, war Horst und meine Essensbestückung. Da er sich an den Kosten beteiligte, kauften wir für die drei Wochen Überfahrt Lebensmittel ein. Was Horst und ich nicht berücksichtigten, weil wir wenig Verlangen danach hatten und jeden Pfennig sparsam einsetzten, waren Zuckervorräte in Form von Süßigkeiten. Der arme Heiko, er ist regelmäßig in einen mentalen Unterzucker gefallen. Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen. Was ein Snickers, Mars oder Raider für Wirkungsmechanismen im Stimmungszentrum unseres Gehirns auslösen können! Aber schließlich hätte er auch was sagen können. Naja, er hat es überlebt und geschadet hat es wohl auch nicht. Als wir endlich ankamen, unsere Füße auf festen Boden setzten und eine Strandbar aufsuchten, waren es Horst und ich, die sich eine eiskalte Cola bestellten und Heiko griff zu einem Bier. Was soll man dazu sagen?
Noch auf der Insel La Palma wollten wir vor unserer langen Atlantiküberquerung auf Wasser den Begriff »Erde« unmittelbar und sinnlich in unseren Köpfen verankern und planten eine dreitägige Bergtour. Während ich mit meinen Stricknadeln klimperte und sich Reihe für Reihe aus unzähligen Maschen meines dünnen Garns eine Pudelmütze für Horst aufbaute, packte er unsere Rucksäcke. Wenn sich mein Blick für einen Wimpernschlag von den Maschen trennte, fragte ich mich – sobald ich mich wieder auf Ab und Zunahmen konzentrierte – so ganz nebenbei, warum dort zwei große Rucksäcke standen und was um Himmels Willen er da alles reinstopfte. Ich war, was Gepäck anging, das ich selbst schleppen musste, extrem berechnend. Ich neckte ihn mit dem Hinweis, dass wir zwei Tage und nicht drei Wochen unterwegs seien, was seine Stimmung deutlich verschlechterte. Klar, sitzen und meckern ist reizvoll, aber wie hätte ich es anders beobachten können. Wir hatten eine unausgesprochene Arbeitsteilung, die keiner Logik folgte, außer der, dass sie für Horst stimmig war. Allerdings war sich Horst auch für keine Arbeit zu schade. Am nächsten Tag standen also die Rucksäcke an Bord und Horst ließ es sich nicht nehmen, sie an Land zu bringen, bevor er mich mit dem Beiboot holte. An Land frachteten wir das Gepäck auf unsere Schultern, Horst knickte dabei ein, und als wir loswanderten, stellte ich fest, dass aus seinem Rucksack Wasser tropfte. Ich piesackte ihn so lang, bis er mir übellaunig gestand, dass der vermaledeite Rucksack ins Wasser gefallen sei. Meiner Logik zu folge, hieß der Weg wieder Rückzug aufs Schiff, seiner Logik zu folge sollten wir loswandern. Was wir auch taten. Ich musste ihn ja nicht tragen. Es triefte und tröpfelte seine behaarten Beine entlang in den Staub, deren Spur ich stumm nachging. Die gefühlte Tonne auf seinem Rücken wurde nicht leichter, bis Horst erschöpft zusammenbrach. Wir hielten ein Auto an, der Fahrer sollte uns irgendwo in den Bergen absetzten. Nach ein paar Autostunden wurden wir eigentlich ausgesetzt, denn wir hatten keine Ahnung, wo wir uns befanden. Die Essensvorräte waren bis auf ein paar Ausnahmen, die sich in meinem Rucksack befanden, mit Meerwasser durchtränkt. Notgedrungen stiegen wir auf Kaktusfrüchte um, die wir sammelten und mit Zwiebeln und Zucker über dem Gaskocher rösteten. Abenteuer und Bergromantik pur. Wir stießen auf einen Bergbauern, der mit seinen und wie seine Schweine hauste. Wir zelteten wild und machten kein Auge zu, weil uns ständig unbekannte Geräusche aufschrecken ließen und es selbst Horst, von dem ich das nicht kannte, unheimlich wurde. Nach drei Tagen kamen wir an einem Steinbruch vorbei und fragten einen LKW-Fahrer, der gerade Steine abholte, ob er uns mitnehme. Die Fahrt in einem sehr alten Lastwagen steil den Schotterberg immer knapp an Abhängen entlang war bedrohlich. Der Fahrer musste wild mit den Bremsen pumpen, damit sie ihm den Dienst nicht versagten. Ich weiß nicht, ob ich mich deswegen in den Stürmen auf dem Meer nie so fürchtete, ich fühlte mich sicherer auf dem Wasser.
Zurück auf dem Schiff hieß es für die dreiwöchige Überfahrt: Abschied nehmen. Heiko war auf Gran Canaria zu uns gestoßen und gemeinsam machten wir das Schiff startklar. Nach etwa 5 Tagen auf dem Wasser, ich kämpfte wieder mit meiner lästigen Übelkeit, beutelte uns ein Sturm mit einer riesigen Sandwolke aus der Sahara, die das Schiff in eine dicke rote Sandschicht kleidete. Sand am Strand ist schön. Sand an Bord ist nicht schön. Denn er ist in jeder Ritze, ob am Schiff oder am Menschen. Ich schüttelte und kehrte und schüttelte und kehrte und schüttelte und kehrte. Es nahm kein Ende und ich sah ein, dass ein Schiff in den seltensten Fällen sandfrei ist.
Weil unser Schiff keine Selbststeueranlage besaß, hätten wir in Schichten ununterbrochen am Ruder sitzen müssen. Eine kräftezehrende Angelegenheit. Doch Horst war ein findiger Fuchs und ich bewunderte ihn zutiefst, wenn er mit einfachem handwerklichem Geschick und klugen Überlegungen ein beeindruckendes Resultat erreichte. Er hatte nicht nur – wie jeder andere Segler bei einer Atlantiküberquerung es täte, bei Passat-Winden von hinten – eine Schmetterlingsbesegelung installiert, sondern diese clever mit der Pinne verbunden, so dass wir das Schiff eine Zeitlang sich selbst überlassen konnten. Damit hatten wir drei nahezu fremde Menschkinder allein auf dem Meer wie ein Päckchen zusammengeschnürt auf engstem Raum nicht nur mehr Zeit zum Schlafen, sondern auch zum Langweilen. Heiko las, über den Kassettenrekorder liefen die Dire Straits, Pink Floyd, Peter Gabriel, Keith Jarrett, ich strickte, kochte einfältige Gerichte und Horst puzzelte am Schiff. Das liest sich alles nicht so prickelnd, doch das »Auf-sich-selbst-gestellt-Sein« mit minimaler Ausstattung inmitten der Natur mit dem Ziel vor Augen – in diesem Fall in der warmen Karibik anzukommen – verleiht einem Kraft und Lebendigkeit. Man fühlt sich frei und ungebunden, obwohl man das nicht ist. Man wartet und reagiert. Wie sind die meteorologischen Verhältnisse, wie verhält sich das Schiff, die Technik, was wird von mir gefordert, wie passe ich mich an, welche Möglichkeiten habe ich, wie verhalte ich mich, wenn ich in die Enge, ins Überleben, getrieben werde. Dafür war man selbst verantwortlich.
Nach sechs Tagen auf hoher See kugelte sich Horst während eines Sturms beim Reffen des Großsegels den Arm aus. Er litt unter enormen Schmerzen. Nicht nur das war ein Problem, denn Horst war auch der Einzige, der wirklich etwas vom Segeln und Navigation verstand und sein Schiff in- und auswendig kannte. Jetzt kam uns zugute, dass Heiko Augenarzt war. Zu zweit versuchten Heiko und ich den Arm von Horst wieder einzurenken. Im Salon unter Deck wurde der Tisch abgenommen und Horst mit der Achsel hinter das Tischbein geklemmt. Heiko gab mir die Anweisung fest am Arm zu ziehen während er versuchte ihn reinzudrehen. Das war eine leidvolle Prozedur, da Horst den Arm reflexartig anspannte, so dass der Weg zurück ins Gelenk erschwert wurde. Nach zwei Stunden Ziehen und Drehen mussten wir erstmal aufgeben. Horst war trotz der Gesichtsbräune inzwischen ganz weiß im Gesicht und Heiko hatte die Befürchtung, dass er jeden Augenblick in Ohnmacht fallen könnte. Nach ein paar Stunden wurden die Schmerzen für Horst jedoch unerträglich. Heiko hatte Gott sei Dank etwas Morphium dabei, und damit schafften wir es irgendwann doch, den Arm wieder einzurenken.
Während der ersten Zeit auf dem Atlantik Richtung Süden war es noch kalt und sehr unruhig auf dem Boot, wir mussten die Teller während der Mahlzeiten festhalten und konnten bei den hohen Wellen nicht ins Wasser gehen. Als wir endlich die südlicheren Breiten erreichten, es wärmer und ruhiger wurde, entspannte sich die ganze Atmosphäre an Bord. Wir gingen hin- und wieder ins Wasser, auch wenn wir zu unserer Sicherheit immer an einem Seil angebunden waren. Nicht zuletzt Heiko erinnerte uns immer wieder an die Erzählung aus dem Buch Yachtunfälle von Joachim Schult, in dem er die traurige Geschichte von sechs Seglern erzählt, die bei einer Flaute ins Meer sprangen und alle ertranken, weil die Bordwand des Schiffes zu hoch war und sie nicht mehr an Bord kamen. Zu guter Letzt wurde auch noch das Wasser schlecht, es schmeckte zumindest ganz furchtbar, so dass wir es einfach zum Duschen verwendeten, ohne groß nachzudenken, wie es denn weitergeht. Jetzt hatten wir kein Wasser mehr zum Trinken. Nach ein paar Tagen leckten wir den Tau vom Segel, hofften auf Regen. Sobald Wolken aufstiegen, stellten wir unseren gesamten Vorrat an Töpfen und Schüsseln auf das Vordeck, um Wasser zu sammeln, dann holte Horst noch eine alte Anlage aus dem Vorschiff raus, ein schwarzer Ballon, mit dem man Wasser destillieren konnte. Diese schaffte nicht mal einen halben Liter am Tag. Der Durst wurde immer quälender, irgendjemand kam auf die blöde Idee, den Erbsensud aus den Dosen zu trinken, woraufhin ich noch mehr Durst bekam und ich die Tage zählte, bis wir ankamen. Nach 21 Tagen war Barbados in Sicht. Für das Einklarieren mussten wir in den Hafen von Bridgetown fahren. Horst wollte den Motor, den wir drei Wochen lang nicht gebraucht hatten, starten. Der ließ uns im Stich, so dass wir in den Hafen reinsegeln mussten und prompt mit dem Bug die Piermauer rammten. Trotzdem war es eine seglerische Glanzleistung, denn nur unter Segel das Schiff präzise in einen engen Hafen zu lenken, ist nahezu unmöglich. Wir meldeten uns pflichtbewusst bei der Einwanderungsbehörde und beim Zoll und wurden in Barbados einklariert. Endlich geschafft!
Neun Monate Costa Rica
Wieder in Ft. Lauderdale angekommen, vergingen die nächsten Tage routiniert. Wir kündigten das Appartement und füllten einen angemieteten Lagerraum in Florida mit Mobiliar und den nützlichen und liebgewonnenen Dingen der letzten Jahre, bis sich das Pendel unseres Lebens auf einen Ort neu ausgeschwungen hatte. Den Bronco packten wir mit dem Rest brechend voll und schickten ihn via Frachtschiff nach Costa Rica. Wir wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, wohin der Wind uns mit einem Kind im Arm wehen würde. Es waren Momente des Richtungswechsels. Wollte ich unser ans Wasser gebundenes Vagabundenleben nicht aufgeben, navigierte Horst auf einen festen Hafen zu. Er hatte mit seiner Tochter Svenja Erfahrungen gemacht, die ich nicht hatte. Diese Liebe hatte Narben hinterlassen, die eine gummiartige, geschlossene Schicht zu jeglichem weiteren Kinderwunsch hatte entstehen lassen, darunter tief verborgen hatte sich jedoch seine innere Einstellung zum Leben nicht geändert. So lenkte uns das Schicksal wohl auch zusammen. Ich, die ich überzeugt war, auf unseren übervölkerten Planeten nicht zwingend ein weiteres Menschenleben setzen zu müssen, sondern eines unter meinen Schutz zu stellen, und Horst trafen sich, um Eltern zu werden. Wir wollten offen sein für die Möglichkeiten, die sich uns boten. Mit einem Kind sollte das doch nicht so schwer sein. Dann war es so weit. Wir packten Mienchen ein und flogen von Miami nach San José. Ich wollte Mienchen nicht weiter allein lassen und ich selber wollte auch nicht ohne sie sein. Und warum sollte sie nicht auch Costa Rica kennenlernen?
Das Wetter begrüßte uns ohne Regenschauer, es herrschte Trockenzeit, allerdings frisch, da die Höhe von San José das Klima abkühlte. Im Flughafen kam es zu einer Situation, die mich unglaublich wütend machte, so, dass ich unter anderen Umständen ausfällig geworden wäre, hatte mich aber so weit im Griff, dass ich mich letztendlich ohne grobe verbale Gegenschläge durchsetzen konnte. Mienchen kam – aus was für Gründen auch immer, ob es technisch oder menschlich verdusselt war – mit einem anderen Flieger in Costa Rica an. Also saß das Ehepaar Lehmann auf einer Bank im Airport und wartete auf ihre Katze. Was ich auf dem Schiff gut kann, mich langweilen, gelingt mir ansonsten kaum. Eigentlich gar nicht. Nach ein paar Stunden Warterei war sie endlich da, wie uns das Personal mitteilte, aber wir durften sie nicht mitnehmen. Der Zoll wollte uns doch tatsächlich ein paar tausend Dollar abknöpfen, weil Mienchen angeblich eine exotische Katze sei. Mienchen! Wenn sie es verstanden hätte, wäre sie wahrscheinlich zeit ihres restlichen Katzenlebens mit Stolz erhobener Brust naserümpfend um den Futternapf geschlichen und hätte nach Luxuriöserem verlangt. Sie war eine einfache Hauskatze, schlicht und unverkennbar. Sie war eine Piratin der Meere, die Stürmen trotzte und den Kampf mit Haien aufgenommen hätte. Aber sie war bei weitem keine Diva. Und das sah man ihr auch an. Man glaubt es nicht, wie lange so ein Prozess dauern kann, wenn auf der einen Seite die Leute zwar am längeren Hebel sitzen, aber ihre Argumentationskette miserabel ist, und auf der anderen Seite sich ein hochroter Krebs mit geschliffenen Scheren befindet. Am Ende legten wir 200 Dollar auf den Tisch und nahmen Mienchen mit.
Mit dem Taxi fuhren wir zu Carmen, die uns herzlich empfing. Hans war zu einem Gelegenheitsjob in Panama, wo er in einer Schiffswerft als Schreiner arbeitete. Da unser Spanisch in den letzten Wochen nicht über Nacht ein perlendes Unterhaltungsniveau erhalten hatte, meldeten wir uns in einer Sprachenschule zu einem Spanischkurs an, die von Ana Mercedes geleitet wurde. Wir nahmen Carmens Gastfreundschaft zwei weitere Wochen in Anspruch, dann fanden wir ein kleines, möbliertes Haus in einem Vorort von San José und zogen dort ein. Ich nannte es mein Dreieckshaus, weil das Dach die Konstruktion eines Dreiecks hatte. Vielleicht war es auch eine Pyramide – egal –, es war originell, einfach und gemütlich. Der untere Bereich war ein großer Raum mit einer zusammengewürfelten Küchenzeile, daneben winziger Raum mit einem Klo und im gegenüberliegenden Eck ein Sofa. Oben, unter dem Dach, war ein kleines Bad und unser Bett. Für unsere Verhältnisse hatten wir enorm an Raum gewonnen, den wir gar nicht mit Möbeln bespielen konnten. Wir waren relativ weit ab vom Schuss, hatten kein Telefon, einen Fernseher hatten wir sowieso noch nie, aber ein Radio kaufte sich Horst bei einem Besuch in Panama. Vor dem Haus grasten freilebende zahme Pferde, die dem Hausbesitzer, der in Sichtweite im Haupthaus lebte, gehörten. Wilde Beerensträucher bildeten einen natürlichen Sichtschutz. Es waren Morosträucher, eine brombeerartige Frucht, aus der Horst und ich leckere Marmeladen kochten. Jetzt lebten wir also in einem Haus, mit dem Wunsch ein Kind zu adoptieren und kochten Marmelade ein. Zwischendurch fuhren wir zu Waisenhäusern, deren Adressen wir einem Buch entnahmen. Seltsam. Wir haben uns dafür entschieden, ein Kind zu adoptieren. Ein Kind, das durch welche Umstände auch immer von seinen leiblichen Eltern getrennt wurde und dem wir ein Nest aus Wärme und Geborgenheit geben wollten. Das hörte sich so einfach und so gut an. Und doch lauerten dahinter Schimären von Wölfen, die uns Selbstzweifel zu knurrten. Alleine in ein Waisenhaus zu fahren und sich ein Kind auszusuchen! Einen kleinen Welpen, der freudig wedelnd auf uns zukommt, sich auf unseren Schoss schmiegt, und bei dem wir uns in kurzer Zeit seiner lebenslangen Treue und Hingabe sicher sein können. Aber ein Kind? Es wirkt verrucht, wenn zwei Europäer in ein Waisenhaus in Costa Rica kommen. Blond, weiß, stand ich da und fühlte mich festgefroren. Mein Ansinnen in einem Haufen wuselnder, lärmender Kinder zu erleben, bedrückte mich. Den Kleinen ging es in diesem Moment besser als mir. Die Häuser machten alle durchweg einen guten Eindruck. Sie waren sauber, die Erzieher freundlich, ohne dass es einstudiert wirkte. Die Kleinen waren munter, nicht aufdringlich, obwohl man spürte, dass sie genau wussten, weshalb man da war. Sie wollten da raus, aber sie waren keine kleinen Huren, die sich anboten, sie zu kaufen. Sie waren unschuldige Seelen, die man bei ihrer Menschwerdung ins Abseits gestellt hatte. Jedes Augenpaar tropfte eine ungeweinte Träne auf meine Eisschicht aus Sorge, Angst und Schuldgefühlen, die sofort gefroren. Natürlich distanziert »man« sich, indem man sich einredet, den Kindern weit bessere Möglichkeiten an Ausbildung, Komfort und Liebe zu geben. Eine bittere Würze, die so augenscheinlich dem Retter schmeichelt. Ich wollte doch einfach nur ein Kind. Ich wollte doch einfach nur mein Herz verschenken.
Carmen und Hans waren nun eine dreiviertel Stunde mit dem Auto von uns entfernt. Eines Tages erzählte sie bei einem Besuch von Dalia. Dalia war ein nicaraguanischer Flüchtling, die mit ihrer Familie, Mutter, Brüdern, Kindern zu acht in einem kleinen Häuschen wohnte. Sie schliefen in Etappen, quasi nach ihren Schichtdiensten, weil es für alle gleichzeitig zu klein war. Dalia hatte bereits zwei kleine Kinder. Ihr Mann hatte ein Visum für die USA erhalten und arbeitete seit einem Jahr in Florida. Und sie war schwanger. Es gab keine Fakten. Ob sie vergewaltigt worden war und das Kind nicht wollte oder ob sie fremdgegangen war. Diese Wahrheit erfuhren wir nicht. Durch ihren katholischen Glauben kam eine Abtreibung nicht in Frage. Es wusste außer ihrer Mutter keiner ihrer Familienangehörigen von der Schwangerschaft, weshalb wir uns in der Regel nicht bei ihr trafen. Auch ihr Mann durfte davon nichts erfahren. Sie wollte das Kind sofort nach der Geburt abgeben. Das versicherte uns Carmen, die bereits mit ihr gesprochen hatte. Diese Nebelwand war für mich zu undurchsichtig. Ich war bereit, am Strand zu verharren, aber nicht aufs Meer zu fahren. Carmen arrangierte ein Treffen mit Dalia. Sie war eine sympathische, schüchterne junge Frau und bereits im fünften Monat schwanger. Ich selber bin kein sprudelnder Wasserfall hinsichtlich Konversation, gerade wenn ich zum ersten Mal einem Menschen begegne. Ich nähre meinen Fluss mit Beobachtungen bis ich jemanden bitten kann, hineinzusteigen und dem Lauf meiner Worte zu folgen. Dieses erste Treffen war ein fremdelndes Beschnuppern. Horst war da wesentlich pragmatischer und orderte fröhlich bestimmend einen Frauenarzt Termin an. Gar nicht, um nicht die Katze im Sack zu kaufen, er wollte Dalia etwas Gutes tun, was in Deutschland als selbstverständliche Routine galt. Außerdem war er entsetzlich neugierig, welches Geschlecht das Kind hatte. Spricht man das nicht eigentlich den Frauen zu? Wir vereinbarten eine Ultraschall-Untersuchung. Horst freute sich bereits auf ein kleines Baby-Girl. Er war überzeugt, dass das mit Mädchen alles leichter wäre. Hinzu kam, dass die beiden Mädchen von Dalia niedlich und reizend waren. Da man die Aufgaben, an denen man Lernen und Wachsen soll, zugeteilt bekommt, von wem auch immer, zeigte das Ultraschall-Bild einen kleinen, wunderbaren Zipfel zwischen zwei gesunden Beinen. Wir waren hin und weg. Während der verbleibenden Monate holten wir Dalia und ihre Kinder öfters zu uns, luden sie zum Essen ein und gingen gemeinsam zum Anwalt, um die Papiere und das Adoptions-Prozedere vorzubereiten. Der Anwalt war auf Adoptions-Recht spezialisiert und wurde uns von Marie empfohlen. Sie war Amerikanerin und die Ex-Frau unseres Vermieters. Außerdem sahen wir uns regelmäßig, weil sie Mitglied der Organisation „US Citizens concerned for Peace“ war, der wir uns angeschlossen hatten. Wenn Dalia uns besuchte, konzentrierten wir uns auf die beiden Kinder. Mein Spanisch war noch nicht flüssig und Dalia eine schüchterne, melancholische junge Frau. Es gab auf beiden Seiten Fragen, die wir nie stellten, um es nicht komplizierter zu machen. In den wenigen Momenten der Begegnung vertraute sie mir an, wie traurig sie das machte, sie wollte das Kind gerne behalten, sah aber keine Chance, die Situation mit ihrem Mann zu bewältigen. Das machte das alles für mich nicht einfacher. Schuld klebte harzig an den Stellen, die offenbarten, dass ich etwas an mich nahm, das nicht mir gehörte. Im Prinzip warteten sie alle auf die Ausreise nach Florida, um ihr Leben dort neu aufzubauen. Dalia versicherte mir mit Gesten und mageren Worten, wie froh sie war und dankbar, die Zukunft ihres Kindes in unsere Hände legen zu dürfen. Und streichelte schützend die Köpfe ihrer Töchter. Schon vor der Geburt suchten wir den Namen Manuel Enrique aus. Er gefiel uns allen dreien. Er war international, er verband die spanisch sprechende Heimat mit der deutschen Zukunft. Enrique hängte sich an, weil seine Tonmelodie den Namen vollständig machte. Damals hatten wir keine Namensbücher zur Hand, die uns nicht nur eine große Auswahl von Namen offeriert, sondern auch ihre Bedeutung erläutert hätten. Spät erst erfuhr ich, dass der Name Manuel aus dem Alten Testament von Immanuel abstammte, der durch den Propheten Jesaja vorhergesagte Name des kommenden Messias. Er bedeutete Gott sei mit uns.
In der Sprachenschule Academia Tica von Ana Mercedes Rodriguez-Acevedo lernten wir Herbert Zapf kennen, der ein guter Freund wurde. Er kam aus der Nähe von Mannheim und arbeitete bereits seit zwei Jahren für die ILO (International Labour Organisation) in San José. Seine Freundin und spätere Frau Camilla studierte noch in Deutschland. Dann war da noch Susan, eine Amerikanerin, die mit ihrem Freund zusammen nach Mittelamerika gekommen war, weil sie mit der amerikanischen Außenpolitik nicht einverstanden waren. Der Freund arbeitete für das amerikanische Peace Corps im Norden von Nicaragua und baute Trinkwasserbrunnen, sie ging als Jongleurin von Krankenhaus zu Krankenhaus um im Bürgerkrieg verletzte oder traumatisierte Kinder aufzuheitern und ihnen ein wenig kindliche Würde und Freude zurückzugeben. Sie hatte sich eine Auszeit vom Bürgerkrieg in Nicaragua genommen, um im friedlichen San José besser spanisch zu lernen. Ana Mercedes hatte an der Universität in Leipzig studiert und sprach perfekt deutsch. Im April ´87 schleppte Marie uns zu einem Vortrag, organisiert von den „US Citizen concerned for Peace“, gehalten von Tony Avirgan. Toni war Journalist von ABC News und hatte sich intensiv mit dem Attentat von La Penca in Nicaragua beschäftigt. Zu einer Pressekonferenz, zu der Eden Pastora im Mai 1984 eingeladen hatte, brachte ein libyscher Terrorist eine Plastikbombe zur Explosion, bei der drei Journalisten und fünf Mitkämpfer von Pastora ums Leben kamen. Viele wurden verletzt, unter ihnen Toni Avirgan.
Das Attentat von La Penca
Am 9. März 1981 gab US-Präsident Ronald Reagan dem US-Geheimdienst CIA den Auftrag, verdeckte Aktionen gegen Nicaragua und die Sandinisten vorzubereiten. Für deren Ausführung standen dem CIA 19 Mio. Dollar zur Verfügung. Der CIA erhielt die Anordnung, eine paramilitärische Truppe von 500 Mann zu bilden, die Sabotageaktionen und verdeckte Aktionen gegen Nicaragua ausführen sollten. Berichte, nach denen die US-Regierung aktiv auf den Sturz der sandinistischen Regierung in Managua hinarbeitete, stießen aufseiten der USA auf immer heftigere öffentliche Kritik. Trotz eines vom US-Kongress verabschiedeten Boland Amendment, das dem US Geheimdienst verbot, direkt oder indirekt auf den Sturz der sandinistischen Regierung hinzuarbeiten, wurden vom CIA Spezialisten und Militärberater für Operationen bereitgestellt sowie antisandinistische Freischärler im Norden von Nicaragua mit Waffen unterstützt. Auf der salvadorianischen Luftwaffenbasis Illopango wurden ehemalige exilkubanische CIA Agenten abgestellt, die illegale Versorgungsflüge für die Contras koordinierten. Hinter der Fassade dieses politisch-militärischen Unternehmens trieben die »Spezialisten« des exilkubanischen Untergrundes einen schwunghaften Handel mit Kokain, der ihnen das Drogenkartell von Medellin in Kolumbien lieferte. Im Süden von Nicaragua versuchte der sich 1983 von den Sandinisten abgesetzte Eden Pastora an der Grenze zwischen Costa Rica und Nicaragua eine militärische Alternative zu der vom CIA finanzierten Contras aufzubauen. Um diese Hintergründe aufzudecken, gab Eden Pastora diese Pressekonferenz, an der Tony Avirgan teilnahm und schwer verletzt wurde. Als wir 1987 in Costa Rica ankamen, war der Bürgerkrieg im Norden von Nicaragua noch voll im Gang. Das Attentat von La Penca war bis zu dieser Zeit nicht vollständig aufgeklärt und Tony und seine Frau sahen es als ihre Mission an, dies zu erreichen. Er berichtete darüber, dass im Gefängnis von San José einer dieser Freischärler über Costa Rica bei einem Drogentransport für die Contras mit seinem Flugzeug abgestürzt war. Die genauen Umstände waren nicht bekannt. Dieser Freischärler hatte sich bereiterklärt, gegen die Contras vor Gericht auszusagen, obwohl er noch immer hinter dem Sturz der Sandinisten in Nicaragua stand. Er hatte nur einen persönlichen Zorn auf die Contras. Durch seine Zusage, in dem Prozess gegen die Contras auszusagen, befürchtete Tony, dass diese versuchen würden, den Freischärler im Gefängnis umzubringen. Er bat die Mitglieder, ihn am besuchsoffenen Sonntag zu besuchen, um durch die pure Anwesenheit von Besuchern ihn vor einem Attentat zu schützen. Tom, auch ein Mitglied, der schon vorher verschiedene Male bei diesem Freischärler war, erzählte uns an diesem Abend, dass er im Gefängnis immer einen deutschen Gefangenen antreffen würde, dem es ganz schlecht ging. Für uns dann Grund genug am kommenden Wochenende mit Tom ins Gefängnis zu gehen. Punkt 10:00 Uhr wurden wir eingelassen. Bei uns Gringos ging das ganz schnell, Costa Ricaner, die Verwandte oder Freunde besuchten, wurden gründlich untersucht. Im Gefängnis trafen wir dann den Deutschen, der uns sofort seine haarsträubende Geschichte erzählte, wie er ins Gefängnis gekommen war. Er war angeblich beim deutschen Bundesnachrichtendienst, also dem BND angestellt gewesen. Hatte eine Zeitlang für diesen auf Kuba ausspioniert und war dann in Nicaragua eingesetzt worden – zur Spionage. Er berichtete, wie ihm irgendwann Zweifel kamen, ob diese Aktion in Nicaragua seine Richtigkeit hätte und tauschte sich mit einem Vorgesetzten aus. Daraufhin sei ihm ein paar Wochen später eine tote Frau in sein Hotelzimmerbett gelegt worden. Er wurde verhaftet und des Mordes an der Frau angeklagt. Später am Besuchstag kam dann noch seine Frau und eine seiner zwei Töchter dazu. Sie waren aus Rosenheim nach Costa Rica gekommen, um ihren Mann und Vater zu unterstützen. Er selbst war eigentlich guter Dinge, dass die Geschichte für ihn gut ausgehen würde. Er bemühte sich seit seiner Einweisung in dieses Gefängnis anderen Gefängnisinsassen das Gärtnern beizubringen. Seine Frau sprach nicht sehr viel, seine Tochter weinte nur die ganze Zeit. Bei weiteren Besuchen lernten wir auch die zweite Tochter kennen. Er war den Umständen entsprechend gut drauf, die weiblichen Mitglieder unglücklich und nervös.
Wir wechselten im Gefängnis immer zwischen ihm und dem Freischärler hin und her. Er war ein ätzendes rechtes Arschloch. Natürlich tauchten unartige Gedanken auf, dass es um ihn nicht schade gewesen wäre, denn er hatte selber so viel Dreck am Stecken, war ein Verräter, ein Lügner und was weiß ich – einfach widerwärtig. So saßen auch wir manchmal bei ihm und belauerten jeden Neuankömmling. Ich! Zierlich, klein, weiblich, blond, behielt die groteskeste Rolle in diesem Stück. Nachdem Manuel auf der Welt war, sind wir noch ein oder zwei Mal hingegangen, um uns von ihnen zu verabschieden. Horst ist dann nach Deutschland zurück und allein mit Manuel wollte ich nicht mehr hingehen.
Ein paar Wochen später traf ich die Ehefrau noch einmal zufällig. Ich hatte Manuel in meinem Brustbeutel und wir waren auf dem Weg zum lokalen Geldwechsler. Zunächst sprachen wir über Manuel, wie es mir mit ihm geht und wie die Adoption voranschreitet und dann, wie in einem falschen Film wurde ihre ganze Geschichte noch haarsträubender, als sie bis zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon war. Sie fing plötzlich an zu erzählen, dass sie diesen Mann im Gefängnis erst seit einem dreiviertel Jahr kennen würde. Sie hatte auf eine Bekanntschaftsanzeige in einer Rosenheimer Tageszeitung geantwortet, erst mit ihm schriftlich kommuniziert, um dann irgendwann mit ihren zwei Töchtern zu ihm nach Costa Rica zu fliegen. Ich kann nicht sagen, ob das vor oder nach der toten Frau in seinem Zimmer war. Aber die Situation wäre für sie und ihre Kinder unerträglich. Sie tat mir furchtbar leid. Aber dann wurde die Geschichte immer schräger und es stand eine ungeheure Angst, wie ich sie noch nie gesehen hatte, in ihren Augen. Sie blickte nur noch panisch nach links und rechts, erzählte, dass sie mit ihren Kindern zurück nach Deutschland kehren möchte. Der BND würde dieses aber verhindern, indem er ihr androhte, sie könne allein nach Deutschland fliegen, die zwei Mädchen müssten aber zurück in Costa Rica bleiben. Sie war in größter Not, das war ganz offensichtlich, kein Theater. Ich hatte das Gefühl ihr helfen zu müssen, aber ich wusste nicht wie. In welch absurde Situation war ich da hinein geraten? Ich wollte auf keinen Fall die Adoption verzögern oder sogar in Gefahr bringen, indem ich mich in die Nähe dieser verrückten Kriminalgeschichte begab. Ihre Angst übertrug sich auf mich. Als sie sich von mir verabschiedete, war ich völlig durcheinander und wollte auch kein Geld mehr wechseln. Schnell stieg ich in den nächsten Bus und war erleichtert, diesen Albtraum hinter mir zu lassen. Aber ich muss oft an diese Familie denken – hatte ich zu wenig Zivilcourage?
Einen Abend gingen wir nochmals zu einem Treffen der „US Citizens concerned for Peace“, wo ich dann Maria, eine Flüchtlingsfrau aus Guatemala, kennenlernte. Ihre Biografie ein einziger Albtraum, der für sie wahrscheinlich nie wieder enden wird. Sie hatte in der Coca Cola Fabrik gearbeitet, die in den späten 70er Jahren bis 1985 von den Arbeitern für bessere Arbeitsbedingungen bestreikt wurde. Viele Streikende wurden von Todesschwadronen der Regierung, geführt von einer Militärdiktatur, getötet oder ins Gefängnis gebracht, auch Maria. Der Gefängnisaufenthalt wurde zum Horror. Täglich wurde sie mehrmals von verschiedenen Gefängniswärtern vergewaltigt. Irgendwann gelang es ihr durch einen Zufall, dem Gefängnis zu entkommen. Sie konnte sich bei Freunden verstecken. Aus Rache entführten die Todesschwadronen ihren 15 Jahre alten Bruder. Er wurde nie wiedergesehen, wurde wahrscheinlich umgebracht und verscharrt. Sie selbst flüchtete dann nach Costa Rica, fühlte sich aber schuldig am Tod ihres Bruders.
Unser kleiner Attentäter
Zwei Wochen bevor Manuel geboren wurde, verließen wir das Dreieckshaus. Einbrecher hatten sich Zugang zu unserem kleinen Refugium verschafft. Obwohl wir nichts großartig Wertvolles besaßen, klauten sie alles, was auch nur etwas von Wert und nicht niet- und nagelfest war. Schmerzhaft und ärgerlich war für mich der Verlust meiner Nähmaschine. Ich hatte gerade angefangen, Kinderrucksäcke in Form von Bären zu nähen, um unsere Haushaltskasse etwas aufzubessern, da wurde mir meine vertraute, zuverlässige, beständig ratternde Begleitung, meine finanzielle Grundlage und Unabhängigkeit gestohlen. Etwas hatte sich verändert. War die Welt bislang ein Prisma, in dem sich die gleichen Elemente bewegten und stetig neue Muster formten, denen ich neugierig und sorglos begegnete, bereitete mir dieses Spektrum an Elementen aus Gewalt, Unberechenbarkeit und Menschenverachtung körperlich Angst. Wir zogen für zwei Wochen in ein Haus, dessen Besitzer – ein Diplomat – auf Reisen war und eben nicht in seiner Abwesenheit von Einbrechern heimgesucht werden wollte. Wir wurden seine Housesitter. Für uns war das Anwesen ein Luxusdomizil, mit vielen Dingen, die andere Menschen gerne hätten und einem hohen Zaun, um sie zu schützen. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis wir ein einfaches Appartement fanden, in das wir einzogen. Am Samstag, den 6. Juni 1987 packte uns die Lust einen Ausflug zu machen, raus aus den vier Wänden, in die Natur eintauchen, hoch auf den Arenal. Der Arenal ist ein 1.670 Meter hoher Erdhaufen, der 1937 zum ersten Mal bestiegen wurde und sich als eine wunderbare bis zum Gipfel grünbewachsene Oase zeigte. Bis dato glaubte man nicht an einen vulkanischen Ursprung des Kegels. Dann kam es 1968 zu einem großen Ausbruch, bei dem zwei Ortschaften zerstört und viele Menschenleben von der glühenden Lava verschluckt worden waren. Man stellte fest, dass er seit 400 Jahren keine Aktivität mehr gezeigt hatte, doch mittlerweile wächst der Vulkan jährlich mehrere Meter, da sich Lava rund um den Krater aufhäuft. Lava fließt auch regelmäßig an den Hängen bis zur Talsohle, und ab und zu spuckt er Kirschkerne in Form riesiger glühender Gesteinsbrocken weit in den Himmel. Heute zählt er zu den aktivsten und zugleich jüngsten Vulkanen von Costa Rica und sogar zu einem der aktivsten weltweit. 2010 waren die Eruptionen so stark, dass der Nationalpark evakuiert werden musste, weil die Lavaströme an den Flanken des Kegels hinabströmten. Seitdem war Ruhe. Ich dachte mir, einem riesigen Gesteinsbrocken kann ich ausweichen und Lavaströmen davonrennen. Ich war ja nicht in einem Film. Nur dort passiert etwas. Eigentlich machte ich mir gar keine Gedanken. Ich wollte einfach sehen, von was andere Leute mir berichteten. Also fuhren wir los, parkten, stiegen aus, Rucksack angeschnallt und aufwärts gings. Eine Wanderung durch mystischen Regenwald, wild bewachsen, in dem es huscht, raschelt, und plötzlich geben die Baumkronen den Blick frei auf das, was sie nährt und verschlingt, den aktiven Vulkan. Es roch schweflig, kein angenehmer Geruch – es erinnerte an Stinkbomben, die früher die Lausbuben in der Schule gerne knallen ließen, die sich ja kaum vor ihren eigenen Fürzen ekelten –, und man hörte den Vulkan rumoren. Uns begleitete eine Familie mit zwei Mädchen, die bislang fröhlich den Anstieg mitgetrabt waren. Plötzlich spürte man unter den Füßen ein Beben, das sich an die Nervenbahnen anhaftete und im Ohr, mit dem Knall der Eruption, explodierte. Der Berg spuckte! Geruch, Umgebung, der Urknall versetzte eines der Mädchen in Panik. Es rannte schreiend und stolpernd weg. Die Kleine tat Horst leid. Für sie galt weder Feenzauber noch Eiterpickel, sondern nackte Todesangst vor einem verschlingenden Monster, das einen mit seiner heißen Zunge fängt und verschluckt. Horst ging dem Mädchen zusammen mit den Eltern hinterher, die auch das andere Kind beruhigen mussten. Mich packte die Versuchung, das Spektakel mit der Kamera einzufangen. Allerdings suchte ich blind durch den Sucher und das Objektiv fing nur Ascheregen ein, so dass ich bald umkehrte.
Am Sonntag, den 7. Juni 1987, besuchte uns Dalia mit ihren 2 Mädchen. Horst holte sie mit dem Auto ab. Ich beobachtete sie, wie sie aus dem Auto ausstieg. Betrachtete ihren anschwellenden. Es wunderte mich, wie Dalia ihrer Familie gegenüber dem wachsenden Bauch erklärte. Partielle Fettsucht. Sie war zwar nicht übermäßig dick, aber da sie eine schlanke und zierliche Gestalt hatte, sah man, dass sich unter der Kleidung das Kind in seiner Schutzhülle deutlich vorwölbte und zeigen wollte. Ich vermutete, dass es wissentlich stillschweigend ignoriert wurde und man den Frauen die Verantwortung übertrug, sich darum zu »kümmern«. Wir verbrachten einen launigen, ausgelassenen Nachmittag zusammen. Ich hatte etwas zu Essen hergerichtet, die Mädchen tollten um das Haus, und Horst unternahm stetige, mitunter sehr lustige Kontaktversuche, indem er ihnen etwas zeigte, was sie seiner Meinung nach zum Leben brauchen konnten. Am Abend fuhren wir sie gemeinsam zurück, erfüllt von der Hitze und Gemeinschaft des Tages. Zwei Wochen noch und wir waren nicht mehr nur Zaungast, sondern hatten unsere eigene kleine Familie. Ich war in einem tiefen, traumlosen Schlaf, als das Klingeln des Telefons sich wie ein dichter Luftzug durch meine Gehörgänge in die angenehme Leere wandte und sie ausfüllte. Ich schreckte hoch, das elektronische Schrillen war so selten, dass es Herzklopfen auslöste. Ich griff den Hörer und vernahm Dalias Stimme, die mir erklärte, dass es so weit war. Wahrscheinlich erklärte sie mir auch, dass die Wehen eingesetzt hatten, aber ich verstand nichts. Ich spürte mein Herz gegen mein Brustbein pochen und seinen Schall durch den ganzen Körper fluten. Mit fahrigen Bewegungen zogen wir uns an, viel zu aufgeregt, um unsere Gefühle und Gedanken in logische Worte zu fassen, die die Spannung vor diesem großen Abenteuer der Ankunft von neuem Leben beschreibt. Dalia stöhnte leise vor sich hin. Sie hatte eindeutig Schmerzen, die Wehen setzten ihr zu. Ich fühlte mich entsetzlich hilflos. Ich hätte nicht mit ihr tauschen wollen, aber den Schmerz so unmittelbar neben ihr zu erleben, ohne helfen zu können, weder mit tröstenden Worten, die mir in ihrer Muttersprache nicht einfielen, noch mit zärtlichen Berührungen, die wir vorher nicht geübt hatten, schleuderte mich in eine ausweglose Situation, die ich mit Scham füllte. Das Licht des Krankenhauses leuchtete uns wie der Leuchtturm auf stürmischer See entgegen. Wir waren alle drei erleichtert, als Ärzte und Schwestern Dalia in ihre Obhut nahmen. Dann wurden wir wieder nach Hause geschickt. In ein leeres Haus, das auf Ankunft wartete. Das passte uns überhaupt nicht, aber wir mussten uns den Gepflogenheiten beugen. Mit Carmens Hilfe riefen wir am nächsten Tag im Krankenhaus an und erfuhren, dass Dalia unseren kleinen Manuel um 4 Uhr entbunden hatte. Am Montag, den 8. Juni 1987. Der Mond stand im zweiten Viertel. Am Dienstag durften wir endlich Dalia und Manuel besuchen. Das Krankenhaus hatte den Standard von unseren Häusern aus den 60er Jahren. Dunkle Räume und Flure, Neonlicht. In Dalias Zimmer lagen drei Frauen, es war wuselig, die beiden Zimmergenossinnen waren am stillen, was nicht hieß, dass nicht gequatscht, hantiert und gewerkt wurde. Die Wände waren dunkel, so dass wir nur das Licht unseres kleinen Sohnes sahen. Er wurde von einer Schwester gebracht und Dalia legt ihn an ihre Brust. Das war für die Situation vielleicht ungewöhnlich, aber so bekam er diese drei Tage all die Liebe, Fürsorge, das wichtige Kolostrum seiner biologischen Mutter, wofür ich sehr dankbar war. Danach nahm ich ihn zum ersten Mal auf den Arm und war erfüllt von einem See aus Liebe und Tränen. Unser kleiner Manolito. Was für ein wunderschönes Baby, der Kopf voller schwarzer Haare, alles an ihm war perfekt. Eine Angestellte kam, um Manuel für die landesübliche Beschneidung abzuholen. Dalia fragte uns, ob wir damit einverstanden seien, was wir natürlich nicht waren. Ich sah es als einen widernatürlichen Akt der Gewalt, den ich Manuel nicht zumuten wollte. Wenn er sich als Erwachsener für eine solch rituelle Handlung entscheiden würde, wäre es seine Sache, Horst und ich lehnten dies vehement ab. Es kam zu Diskussionen, aus denen sich die Angestellte abschätzig abwendete und den Raum verließ. Ich hatte das Gefühl, ich müsste Manuel beschützen und ein weiterer Strang in dem Band legte sich dazu. Da Dalia und Manuel pumperlgesund waren, durften wir sie bereits Mittwoch abholen. Wir legten Manuel in eine Tragetasche, die ich mitsamt ihrem wertvollen Inhalt zu mir auf den Rücksitz nahm. Dalia saß vorne bequemer, es waren kleine, aber deutliche Zeichen des Übergangs. Wir brachten sie nach Hause. Es war ein schneller Abschied. Eine Umarmung mit einem geflüsterten Danke, das sich auf der Brücke unserer Begegnung traf. Dalia wollte Manuel danach nicht mehr sehen, wofür ich Verständnis hatte. Das war ihre Grenze des Erträglichen. Wir sahen sie zwar noch öfters durch das Adoptionsverfahren, aber nahmen aus Respekt Manuel nie mit. Ich hätte meinem Gefühl von Schuld und Scham, einer Mutter ihr Kind genommen zu haben, gerne Erleichterung verschafft, indem Manuel Kontakt zu seiner leiblichen Mutter gehalten hätte. Aber manche Träume bleiben verpackt im Land der Fantasie. So zogen wir mit unserem Schatz in unsere Wohnung und waren auf einmal zu dritt. Und waren sehr beschäftigt, unser Kind zu versorgen. Waren wir davor in den verschiedenen Organisationen engagiert oder damit befasst, Spanisch zu lernen, lag dies stillgelegt auf Halde in San José, während wir unser Bestes gaben, Eltern zu werden. Manuel wechselte sofort von Brust auf Flasche, die er gierig aussaugte. Es gab einen Bioladen in der Nähe der Universität, in dem wir Babynahrung kauften. Damals hatte Nestlé bereits den südamerikanischen Markt erobert und trichterte den Müttern sehr aggressiv ein, dass Stillen kontaminiertes Gift und Packungsnahrung gesundes Babyglück bedeutete. Es gab kaum Möglichkeiten, sich dem zu entziehen und Alternativen zu finden. Daneben liebte Manuel einen entsetzlich großen, hässlichen, braunen Schnuller, an dem er in allen Lagen und Gemütszuständen heftig nuckelte. Er rief in mir mitunter Ekel hervor, doch ich hütete den Schnuller wie die Pinne beim Segeln, verfügte er doch über einen Zauber, meinen Sohn von einem Moment in den anderen in eine andere Stimmungslage zu versetzen. Als könnte man einen Hurrikan mit einem Stoppschild in eine angenehm laue Brise verwandeln. Ich fühlte mich rundum wohl. Ich lag im Garten, Manuel bei mir. Versunken in der Betrachtung dieses Wunders. So winzig. So schön. Warme hellbraune Haut, kein Storchenbiss, keine abstehenden Ohren, keine krummen Finger oder Zehen – ein warmer weicher süßer Pudding aus purem Glück. Was er tagsüber verschlief, holte er nachts wieder nach. Er verlangte nach Fläschchen und mitunter liefen wir lange Strecken, um ihn wieder in den Schlaf zu wiegen. Carmen erwiderte mal auf meine Schilderung der Schreiattacken in einem flapsigen, aber sehr ernsthaften Ton, dass wir ihn zurückgeben könnten und uns keine Gedanken darüber machen müssten. Das schockierte mich, so rüde in die Schranken gewiesen zu werden, da ich doch einen mütterlichen Austausch und Rat erhofft hatte. Ich hatte nie Angst, dass mir Manuel genommen werden könnte, die Sehnsucht nach Sicherheit, dass er endlich richtig zu uns gehörte, war allerdings groß. Rein rechtlich hätte er uns nie genommen werden können, er hätte dann lediglich einen Pflegekind-Status gehabt. Damit hätten wir aber niemals mit ihm ausreisen dürfen. Auch das hätten wir auf uns genommen. Dann wären wir eben geblieben. Costa Rica ist ein schönes Land, und einer von uns wäre zum Arbeiten nach Florida gefahren, da wir als Ausländer sowieso regelmäßig das Land verlassen mussten. Ich spielte zu dem Zeitpunkt noch mit dem Gedanken, uns wieder ein Schiff zu kaufen und mit Manuel segeln zu gehen. Doch in Horst hatte der kleine Erdenbürger ein Sicherheitsnetz ausgeworfen, so dass er sesshaft werden wollte. Am liebsten zunächst in Deutschland.
Wir gingen für das Adoptionsverfahren von zwei Monaten aus. Dass es dann ein halbes Jahr wurde, war zwar wechselweise bei all dem Nichtwissen beunruhigend und anstrengend, doch rückblickend habe ich die Zeit wie eine eigene Schwangerschaft sehr genossen. Manuels Kinderarzt erfasste bereits bei der Erstuntersuchung seinen Charakter. Mit Hilfe von Carmens Übersetzung wurden alle Untersuchungen gemacht, bis der Arzt mit einer beunruhigenden Diagnose kam, dass etwas am Spinalkanal nicht in Ordnung sei und er operiert werden müsse. Anscheinend gab es eine Öffnung, die geschlossen werden musste. Instinktiv sprachen sich Horst und ich gegen eine Operation in Costa Rica aus. Vor so einem Eingriff wollten wir die Meinung anderer Fachärzte hinzuziehen. Was wir zum Glück gemacht hatten, denn später stellte sich heraus, dass alles in Ordnung war. Der Arzt verabschiedete sich mit den Worten: »Da haben sie einen ganz wilden Buben adoptiert!« und wünschte uns viel Glück. Mit Manuel hatten wir viel Glück und wir hatten einen wilden Buben.
Wir mussten alle drei Monate aus Costa Rica ein und ausreisen, da das Touristenvisum nur drei Monate gültig war und verlängert werden musste. Das erste Mal waren wir im April in Panama, das mit dem Auto eine Tagesreise entfernt ist. Das war so weit kein Problem, da wir im April nur zu zweit waren. Anfang Juli war es wieder so weit, aber dieses Mal fuhren wir nach Nicaragua, zu diesem Zeitpunkt herrschte dort noch Bürgerkrieg. Es war nicht die vernünftigste Aktion, aber was hieß das schon, wir wollten einfach das Land kennenlernen. Manuel konnten wir nicht mitnehmen, da wir ihn noch nicht mit über eine Grenze nehmen konnten. Carmen erklärte sich bereit ihn vier Tage zu nehmen. Unseren Ford Bronco platzierten wir mit einer Deutschlandflagge an der Windschutzscheibe, was mir total unangenehm war, aber es sollte erkennbar sein, dass wir keine US-Bürger waren. Ich wollte einfach nur Mensch sein. Ohne Schmuck oder Klamotten, die mein Gehaltsniveau zeigten, ohne Universitätsstempel, die meine Intelligenz bewiesen, ohne Deutschlandflagge, die mich in eine demokratische Seifenblase hüllte. Menschen hatten noch nie unter Flaggen wirklichen Schutz gefunden. Ich wollte stolz auf Verständigung sein und nicht, weil mein Nest auf einem anderen Baum in einem anderen Wald beherbergt war. Wir begegneten Soldaten, die mit Gewehren am Straßenrand standen und uns baten, sie mitzunehmen. Was macht man in dieser Situation? Man macht große Augen, das Gehirn spuckt in einem fort Alarmsignale aus, das Herz klopft, die Hände feucht, es kribbelt im Nacken, es rumort im Bauch und gleichzeitig bemüht man sich um Ruhe und Freundlichkeit. Schließlich boten wir an, drei Soldaten mitzunehmen. Vielleicht war unser Spanisch noch nicht gut genug oder sie rechneten Horst Leibeshöhe auf sich selbst um, am Ende saßen sechs Soldaten bei uns auf der Rückbank und wir fuhren sie nach Managua. Allerdings hatte ich durchgesetzt, dass sie ihre Gewehre einem nachkommenden Laster mitgaben. Sie waren friedliche müde Beifahrer, deren Einsatz beendet war. Sie hatten ihren Dienst als Grenzpatrouille geleistet und wollten einfach nur nach Hause zu ihren Familien. Das Embargo der USA und die ständige Bedrohung durch die Guerillas setzte ihnen mächtig zu. Man kann das kaum aushalten, wenn man es hautnah miterlebt.
In Managua quartierten wir uns in einem Hostel ein, wo zahlreiche deutsche Aktivisten, Erntehelfer und Unterstützer der Solidaritätskomitees für die Sandinisten übernachteten. Managua war zu diesem Zeitpunkt einigermaßen sicher, die Contras waren mehr im Norden des Landes. Durch die vielen Aktivisten war es zu diesem Zeitpunkt eine sehr lebendige und interessante Stadt. Schade, dass wir nur wenig Zeit hatten, aber wir wollten wegen Manuel nicht zu lange wegbleiben. Im Hotel erzählte uns ein Deutscher, dass er gerade bei einem Projekt 150 km südlich von Managua gearbeitet hatte, dabei mitwirkte, einen Brunnen zu bauen, sodass die Frauen nicht mehr jeden Tag vier Stunden unterwegs waren, um Wasser im nächstgrößeren Ort zu besorgen. Er ermunterte uns, dieses Projekt einmal aufzusuchen. Wir kauften uns noch ein paar Kassetten mit sandinistischer patriotischer Revolutionsmusik. Im Dorf meldeten wir uns dann bei der Dorfvorsteherin. In den Jahren 1986 und 1987 wurden sehr viele Männer – zum Teil mit Gewalt – für den Militärdienst rekrutiert, um die US–finanzierten Contras zu bekämpfen. Dies schwächte schon damals das Land wirtschaftlich. Es gab auch im südlichen Nicaragua hin und wieder noch Angriffe der Contras und die Frauen mussten die Dörfer bewachen. Unsere Dorfvorsteherin erzählte uns voller Stolz, dass sie tagsüber schläft und dann nachts mit einer Kalaschnikow dasitzt, um das Dorf gegen Contra-Angriffe zu schützen. Und sie war sehr glücklich über unser Kommen, insbesondere darüber, dass wir ein Auto hatten. Ein sechs Jahre alter Bub im Dorf war von einem Hund gebissen worden und es gab keinen Tollwut-Impfstoff in der Krankenstation. Sie bat uns mit ihr in das nächstgelegene Krankenhaus zu fahren, um den Impfstoff dort abzuholen. Zwei Stunden Autofahrt hin und zwei Stunden zurück saß sie dann auf der Rückbank und sang aus Leibeskräften mit der Musik aus dem Kassettenrekorder. Sie war überwältigt, ihre sandinistischen Revolutionslieder im Auto zu hören. Wir hatten sehr viel Spaß auf dieser Autofahrt, und sie erzählte uns von dieser sandinistischen Revolution, die für sie eine große Bedeutung hatte. Im Nachhinein, wenn ich sehe, was heute im Jahr 2019 aus dieser Revolution geworden ist, stimmt mich das sehr traurig. Schade, dass von den revolutionären Idealen wenig geblieben ist.
Kurz nach unserer Rückkehr aus Nicaragua flog Horst nach Deutschland. Es fiel ihm schwer, sich von uns zu verabschieden. Doch er musste unseren Hausstand in Florida auflösen und in Deutschland einen gemeinsamen Start vorbereiten. Ich musste so lange in Costa Rica bleiben, bis das Adoptionsverfahren abgeschlossen war. Waren wir bislang ein sehr gleichberechtigt lebendes Paar gewesen, das seine Ressourcen so aufteilte, dass ausgewogene Gemeinschaftsbedingungen entstanden, änderten sich nun etwas die Rollen. Bislang arbeitete ich und Horst kümmerte sich um den Hausstand. Nun war ein Funke geflogen, der in mir entbrannte, dass die Mutter beim Kind bleibt. Und Horst sah das unausgesprochen genauso. Vorher packten wir das Auto und die vielen Tropenholzmöbel, die wir noch in Sarchi gekauft hatten, in einen Container, der nach Deutschland verschifft wurde. Er packte sein Ränzlein, flog nach Florida, um auch dort noch den in Ft. Lauderdale zurückgelassenen Hausrat zurückzuschicken und flog hinterher. Plötzlich allein. Mit einem kleinen Baby. Mir fiel das schwer. Ich hatte keine Ansprache, keinen Austausch. Wenn ich mit dem Bus fuhr, schrie Manuel aus vollem Halse, so dass ich immer nervöser und unruhiger wurde, bis andere Mitfahrer auf mich einschwadronierten, dass Manuel Hunger habe »tiene hambre« und wie süß und niedlich er wäre »ei que lindo«! Das Apartment war nicht weit weg von der Universität, und hin und wieder ging ich dort hin, um einen Kaffee in der Cafeteria zu trinken. Dort traf ich dann zufällig Susan aus dem Spanischkurs wieder. Unter Tränen erzählte sie mir von der ein paar Stunden zuvor erhaltenen Nachricht, dass ihr Freund bei einem Contra-Angriff im Norden von Nicaragua ums Leben gekommen war. Die Contras hatten es oft auf Entwicklungsprojekte abgesehen, um die Gesamtlage zu destabilisieren. Eines Tages fiel er mir auf dem Weg zur Universität beim Überqueren einer großen Straße aus der Tragetasche, er rollte aus dem Nest und kugelte unsanft auf die Straße. Mich erfasste eine Abrisskugel an Panik und schleuderte mich aus dem Verkehr. Am Straßenrand saß ich als heulendes Elend, mit meinem Kind auf dem Arm, dem nichts passiert war, aber ich fantasierte mir trotzdem die schlimmsten Dinge zusammen, gefüttert von meiner Unachtsamkeit und Schuld. Da kam Herbert als mein rettender Engel. Er bot mir an, zu ihm ins Appartement zu ziehen. Er hatte ein leerstehendes Zimmer, genügend Platz und sogar ein Telefon. Tagsüber arbeitete er bei der ILO, abends lebten wir in einer Wohngemeinschaft, aus der in der Zeit eine enge, vertraute Freundschaft wuchs. Ich kochte, machte den Haushalt, tanzte mit Manuel zu den Dire Straits Romeo and Juliet durch die Wohnung, abends spielten wir Skat. Herbert machte es Freude, sich mit Manuel zu beschäftigten, er konnte wunderbar zuhören und ich erlebte ihn als wahren Menschenfreund. Für mich eine perfekte Zeit. Wir lebten wie ein Ehepaar, ohne eine Beziehung zu haben. Er hatte Die Zeit abonniert, so dass ich mich in der Ferne wieder auf unser Leben in Europa einstimmen konnte. Wir diskutierten über die Annäherung von West und Ostdeutschland und die Option der Wiedervereinigung. Wir verfolgten die Iran-Affäre, jetzt nur noch passiv durch die Zeitung, weil mir die Besuche in den Gefängnissen ohne Horst zu unsicher wurden. Herbert und ich gingen sogar gemeinsam in die großartige Oper von San José. Mit Manuel. Es war überhaupt kein Problem, ihn mitzunehmen. Er schlief selig und zufrieden in seinem Nest, während wir Ottorino Respighi folgten und in seinen Kompositionen schwelgten. Wurde es zu laut, hielt ich ihm die Ohren zu, damit er nicht aufwachte. So wartete ich und wartete, dass sich endlich etwas im Adoptionsverfahren tat. Mitunter war ich sehr lästig und konnte unserem Anwalt gehörig auf die Nerven gehen. Ich fuhr öfters mit Manuel im Bus in das Stadtzentrum und stand – ohne Termin – vor seiner Tür. Meistens wimmelte mich seine Ehefrau ab, ein mütterlicher Typ, der mit sanfter Stimme Manuel bespaßte und mich beruhigte. Beide waren um die sechzig Jahre alt, echte Menschenfreunde, unglaublich geduldig und empathisch. Eines Tages musste ich einen schweren Rückschlag hinnehmen, in Costa Rica wurde ein Händlerring mit illegalen Adoptionen aufgehoben und dadurch die Gesetzeslage verschärft. Auf der einen Seite war ich froh, dass im Sinne der Kinder strengere Auflagen und Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden. Da wir selber von Beginn an den Weg über das Jugendamt und die Behörden gegangen waren, wollten wir uns nicht in dem Sumpf wiederfinden. Das jemanden zu erklären, lag natürlich nicht in meiner Hand und ich rutschte in ein tiefes, verlorenes Loch, das meine Zuversicht und Hoffnung für einen Moment verschlang. Wieder reichte mir Herbert die Hand und zog mich da raus, ich bin ihm bis heute von Herzen dankbar. Er lebt heute mit seiner Frau Camilla in der Bretagne. Ab und zu brachten wir Manuel zu Carmen, und Herbert und ich unternahmen etwas, das mich etwas ablenkte, denn ich fühlte mich zeitweise sehr angekettet. Manuel war gerne bei Carmen, sie war ein mütterlicher Typ und er spürte, dass er willkommen war. Wenn ich ging, war das für ihn selbstverständlich, er hatte ein tiefes Vertrauen, dass ich wiederkam. Mit ihm zusammen unternahmen wir Ausflüge in die Berge, um Manuel an die Höhe zu gewöhnen, quasi als Trainingslager für den Flug nach Deutschland.
So reihten sich die Tage wie eine Dominoschlange hintereinander auf, und ich wartete auf den Moment den Stein für den Weg nach Hause umzuwerfen. Und dann fiel er. Endlich. Ich rief Horst an. In der ganzen Zeit hatten wir nur zweimal telefoniert, weil es so unglaublich teuer war. Horst schrieb regelmäßig Briefe, um mich auf dem Laufenden zu halten. Als ich ihn anrief, um ihn über den Atlantik meine Freude über die Zustimmung zur Ausreise zuzurufen, erzählte er mir, dass wir nach Italien gehen würden und ob ich damit einverstanden wäre. Was für eine Freude! Ich liebte Italien, ich freute mich umso mehr, mich mit dem wertvollsten, das ich besitze, auf den Weg nach Europa zu begeben. Vorher nahmen wir Abschied von Costa Rica. Ich musste für Manuel einen Reisepass beantragen. Weil er offiziell noch Costa Ricaner war, musste ich einen Antrag stellen, mit ihm ausreisen zu dürfen, denn das dortige Gesetz schrieb vor, dass Frauen dazu die Genehmigung ihrer Ehemänner brauchten. Da Horst nicht vor Ort war, um mir seine Zustimmung zu geben, musste ich diese vom Jugendamt einholen. Fest die Zähne zusammenbeißen und eine Menge Briefmarken über die Amtstische schieben. Letztere waren die Währung für die Behördengänge. Ich kaufte günstige Flugtickets, mit einem Zwischenstopp in Florida, was mir sehr gelegen kam, denn so konnte ich mich in Ft. Lauderdale nochmals mit Freunden treffen, Manuel spüren lassen, wie sehr ich mich dort aufgehoben gefühlt hatte, um dann weiterzuziehen. Herbert fuhr uns zum Flughafen. Ich hatte meine 12 kg Zuhause auf dem Rücken, Manuel in seiner Tragetasche, bewaffnet mit einer Batterie an Fläschchen. Ich bekam einen Platz in der ersten Reihe und konnte das Nest mit unserem Sohn vor mich auf den Boden stellen. Alles lief völlig problemlos. In Miami nahm ich mir ein Taxi und fuhr in Brunos Zoo, wo ich die Tage verbrachte und mich mit Marion und Uwe traf. Manuel wanderte für die Zeit von meiner Hüfte in Marions Arme, die ihn innig umschlossen. Bee traf ich leider nicht, sie war zu dem Zeitpunkt nicht vor Ort, was ich zwar bedauerte, da ich aber selber Reisende war, nicht erwarten konnte. Dann ging unser nächster Flug, der erste gemeinsame Langstreckenflug für Mutter und Kind. Manuel verschlief ihn fast komplett. Ich hingegen beobachtete meinen Buben mit Argusaugen und ging die gesamten elf Stunden nicht auf Toilette. Was, wenn er aufgewacht wäre und in diesem seltsamen geräuschvollen Raum im Himmel nicht in das vertraute Gesicht seiner Mutter geblickt hätte. Nach der Landung in Düsseldorf durfte ich mich als eine der Ersten mit der Tragetasche durch die Gänge schlängeln, am Gepäckband meinen Rucksack holen und in das novembergraue Deutschland blicken. Ich weiß nicht, ob es das nasskalte Wetter, die vergangene Zeit, die Müdigkeit waren, doch mit jedem Schritt wurde mein Gefühl der Freude für die Heimat und mein Wiedersehen mit Horst in einen dichten unwirtlichen Winterwald gezogen. Ich fremdelte. Im Gegensatz zu Manuel, den Horst zwischen seine Hände packte und nach oben hob, um ihm einen ersten Jauchzer zu entlocken. Wir fuhren im Ford Bronco zu Renate, bei der wir erstmal für die Zeit in Deutschland unterkamen. Auch diese Begrüßung fiel mit freundlichem Abstand aus, Manuel übernahm mit seiner offenen neugierigen Art die Gestaltung dieses Stelldicheins, in dem sich die Erwachsenen wie hölzerne Statisten bewegten. Es dauerte ein paar Tage, bis ich mich komplett und gestärkt fühlte für den Lebensabschnitt, der vor mir lag.